Aufzeichnungen eines Flüchtigen – Statt einer Autobiographie erzählt von einem Sohn-Vater-Konflikt. Nicht zusammenhängend in der Geschichte des Geschehens, sondern zusammenhängend im Geschehenen der Geschichte. Es sind gewöhnliche Situationen, die umkippen, um dann einen eigenwilligen Weg einzuschlagen. Eskalationen im bürgerlichen Leben. Die Ausschweifungen Vater und Sohns, leiblicher und metaphysischer Natur reißen Wunden in sie selbst, zeigen den Bruch zwischen den Generationen. Reißen Wunden ins bayrische und deutsche Land. Kehren Dreck hervor, der den Würmern zum Fraß verbuddelt worden war, aber immer wieder aus dem Boden hervorquillt, über den Tag für Tag Millionen Menschen hinweggehen und sich damit beschmutzen, stets darauf bedacht im Alltäglichen Zufriedenheit zu finden. In diese Wunden streut sich der fortwährende Überlebenskampf, Zweifel und Ängste, die in letzter Konsequenz die Grundlagen menschlicher Existenzen aufzehren können.
Karl Günther Hufnagel wird 1928 in München geboren, wo er auch im Jahr 2004 stirbt. Er stammt aus einer fränkischen Beamtenfamilie, studiert Psychologie, Anthropologie und Philsophie, widmet sich aber schon bald dem Schreiben. 1960 veröffentlicht er seinen ersten Roman Die Parasitenprovinz. Es folgen Erzählungen und weitere Romane. Er schreibt zahlreiche Hörspiele, Theaterstücke, Filmtexte. Zuletzt verfasst er das Theaterstück Maria, das Künstlerbuch Ohne Datum und die vorliegende Erzählung.
Immer wieder sind es Bayern und die psychologischen Sümpfe und Hügel seiner Menschen, die Hufnagel in seinen Texten aufgreift. Und genau da macht die Lektüre seines Werkes den größten Spaß, da, wo die Realität ihren Ernst abtritt, da, wo die Geschichte seinen scheinbaren roten Faden verliert, eben da, wo der Autor den perfekten Augenblick einfängt, und dem Zweifelnden barocke Engel auf den Schultern hocken und süße Lieder in die Ohren singen, was bei Hufnagel so klingt: „Sie nannten es Geschick und waren ständig bemüht, es zu vergessen. Das machte sie atemlos, sie hetzten sich selber oder betäubten sich mit Bier und bunten Bildern, die zu ihrer Beruhigung erfunden worden waren, pflegten ein bescheidenes Glücksspiel, das sie hoffen ließ von Tag zu Tag, denn einmal würde sich alles ändern und sie wären die Gewinner, die zugreifen würden bis zur Ohnmacht einer geträumten Seligkeit.“
Eines bleibt bei der Lektüre des Buches unmißverständlich. Aufzeichnungen eines Flüchtigen – Statt einer Autobiographie ist eine Erzählung, bestimmt keine Autobiographie. Der Ich-Erzähler gibt sich nie einfach nur Bekenntnissen hin. Er ist ungerecht, brutal gegen sich und andere, mit der Fähigkeit zum Ekel ausgestattet, aber auch mit der Tugend zur Liebe. Und dabei sind es immer wieder die Worte, die Syntax, der Rhythmus der Sätze, die Hufnagels Geschichten ihre bissige Form verleihen. Bekannte Ausdrücke erfahren neue Charakteristika, gespeist von der präzisen Beobachtung des Autors. Geläufige Situationen, im familiären Heim oder beim Frühschoppen im Biergarten, versieht Hufnagel mit Befremdlichkeit und Härte, um immer wieder der Realität ihren Kern zu nehmen und zugleich Wahrheit und Wahn in unserem Land näher zu kommen, aber auch das Leben und die Hingabe ans Überleben zu speisen.
Karl Günther Hufnagel, Aufzeichnungen eines Flüchtigen – Statt einer Autobiographie, Gemini Verlag Berlin