Mit einem Schlag auf Seite Eins – der Broterwerb eines Schriftstellers
Geschriebenes unterliegt, wie alle anderen Gewerke in dieser Welt, den gängigen Marktgepflogenheiten. Der Autor ist Unternehmer. Sein Produkt sind Worte und Sätze, die Geschichten erzählen. Das ist die Ware. Wie gut die Ware läuft, bestimmt der Kunde. Geht man davon aus, dass heutzutage schon alles zu Papier gebracht worden ist, jede Idee von vorne und von hinten her erzählt wurde, selbst jede Provokation bereits zur Langeweile führt, der Mensch gewissermaßen zum Spielball der gebotenen Spektakel wird, ob in der Presse, im Fernsehen oder sonst wo, hat es die Ware Wort schwer. Und dennoch verkauft sie sich. Immer wieder. Jemand, der das wissen wollte, ist Jean-Patrick Manchette.
Geboren 1942 in Marseille, studiert er Anfang der sechziger Jahre Anglistik in Paris. 1962 bringt Manchettes Lebenspartnerin Georgette Petcanas den gemeinsamen Sohn Jean Tristan zur Welt. Sie leben zu dritt in einem kleinen Pariser Appartement. Die Miete beträgt 600 Francs, Manchettes monatliches Ausbildungsgeld lediglich 800 Francs. Eine finanziell untragbare Situation. „Ich habe mich auf einmal in der Notwendigkeit gesehen, mich und meine kleine Familie zu ernähren“, erklärt er den Anfang seiner Schriftstellerkarriere. Er beginnt Drehbücher und Romane zu schreiben, in der Regel unter Pseudonym, häufig als Co-Autor, oder beides. Das Produkt ist bei diesen Arbeiten Nebensache. In erster Linie geht es um die Miete. 1971 erscheint dann das Buch Laßt die Kadaver bräunen!. Eine Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Bastid. Bastid, geboren 1937, ist bereits etabliert im kulturellen Betrieb der Grande Nation. Der ehemalige Assistent Cocteaus ist Autor und Filmemacher, Essayist und Theaterschreiber, Mitgestalter der Nouvelle Vague. Bis heute verfasst er zahlreiche Bücher und realisiert über zwanzig Filme. Die „Kadaver“ schlagen im damaligen Literaturbetrieb ein wie eine Bombe im Weißen Haus. Der französische Kriminalroman, auch Polar genannt, scheint neu begründet. Das Buch erschafft den Begriff „Neo-Polar“. Bastid, und nun auch Manchette stehen mit einem Schlag auf Seite Eins der französischen Unterhaltungsindustrie. Beide haben die 1956 erschienene Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord gelesen und sehen einige runde Ideen bei den Situationisten. Die Überwindung eines inzwischen gleich geformten Kunstbegriffs, Kritik an der konsumorientierten Kapitalgesellschaft, und gleichermaßen an der Diktatur des realen Sozialismus. Die Kunst ist tot. Der Mensch kann in ihr bloß als Spielball eines Spektakels gesehen werden. Oder wie Stephen Hastings-King es formuliert: „Die Situationistische Internationale war eine kleine transnationale Gruppe von Künstler-Revolutionären, die aus der neo-dadaistischen Lettristen-Bewegung hervorging. (…) Geübte Provokateure, die darauf aus waren, die Beschränkungen künstlerischer Produktion zu überwinden…“ Darüberhinaus teilen Bastid und Manchette die Liebe zur amerikanischen Hard-boiled-Literatur. Der Krimi (Polar) scheint ihnen die bestgeeignete Form die Gesellschaft treffend zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund war Laßt die Kadaver bräunen! entstanden und hatte den französischen Kriminalroman revolutioniert. Während Jean-Pierre Bastid sich danach anderen Ausdrucksformen zuwendet, entwickelt Manchette den neu entstandenen Polar zur Perfektion. Sein nächstes Buch stiftet Verwirrung. Anfangs, so erklärt Manchette in einem Interview, wussten die Lektoren und Verleger nicht, wie sie mit der Affäre N’Gustro umgehen sollten, da das Buch aus der Sicht eines jungen Rechtsradikalen geschrieben ist. Sie waren unsicher, ob dieser Manchette ein Rechter oder Linker ist. Zudem nimmt die Geschichte starken Bezug auf das Verschwinden und den folgenden Tod des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka während eines Frankreichaufenthalts. Bis heute beschäftigen sich immer wieder Aufklärungskommissionen mit diesem Fall. Dass die SDECE, die CIA, der MOSSAD und noch andere Nachrichtendienste ihre Finger mit im Spiel hatten, wird nicht mehr dementiert. Die vollständige politische Aufklärung der Ereignisse vom 29 Oktober 1965 vor der Brasserie Lipp, und vor allem die der Folgetage, werden wir nie erfahren. Die Akten bleiben der Öffentlichkeit verschlossen, und sind mit großer Wahrscheinlichkeit komplett neu geschrieben. Eine der vielen möglichen Lesarten der Geschehnisse ist die Affäre N’Gustro.
In seinen Romanen splittert Manchette die genrespezifischen Beschränkungen in seine Einzelteile und kloppt sie, wie Würfel in einem neuen Spiel, gegen die Wand. Er bricht gewohnte Erzählstrukturen und weicht die Linearität der Zeit auf. Gerne eröffnet er seine Romane mit dem Ende der Geschichte. Wesentliche Plots sind früh bekannt. Man weiß, dass der Protagonist gestorben ist, oder dass er zwei Menschen erschossen hat und auf dem Periphérique von Paris im Kreis fährt, oder, dass eine anarchistische Terrorgruppe von der Polizei ausgelöscht wurde. Was den Autor Manchette antreibt, ist ein Milieu zu beschreiben; weshalb, und wie desillusionierte Menschen zur Gewaltanwendung finden, und, wie der Staat darauf reagiert. Der behavioristische Schreibstil der amerikanischen Noir Autoren Hammett und Chandler, dessen Manchette sich bedient, potenziert, auf dem Pfad in ein pointiert beleuchteten Lebenskreis, die filmische Atmosphäre seiner Bücher. Der Autor richtet sein Auge, wie eine Filmkamera, fast ausschließlich auf das unmittelbare Geschehen. Mehr als ein verkniffenes Gesicht oder ein Runzeln auf der Stirn findet man selten in den Romanen Manchettes. In den Beschreibungen regieren Produkte, Markennamen und detaillierte Waffenkunde die Szene. Innerhalb eines Jahrzehnts schreibt sich der junge Autor an die Spitze der modernen französischen Literatur. Es erscheinen knapp ein Dutzend Kriminalromane, von denen beinahe alle verfilmt wurden. Das Produktionsvolumen, das Manchette in dieser Dekade vorlegt, ist gewaltig. Neben den Romanen entstehen zahlreiche Drehbücher und Filmadaptionen, ein Theaterstück, Kurzgeschichten, und ein Comic, außerdem übersetzt er zehn Romane aus dem Englischen und Amerikanischen, er arbeitet bei Tageszeitungen und Zeitschriften, und leitet eine Zeitlang ein Wochenblatt. Doch dieses hohe Tempo zeigt schon bald seine Kehrseite. Anfang der Achtziger Jahre scheint der Autor ausgebrannt. Vielleicht bewegt ihn auch die Angst sich zu wiederholen? Das geliebte Enfant Terrible, dekoriert mit zahlreichen Auszeichnungen, als „Vater des Neo-Polar“ betitelt, zieht sich immer mehr zurück. Manchette suchen Phobien heim, die es ihm unmöglich machen das Haus zu verlassen. Die Enge eines Kinosaals wird unerträglich, und sein Sohn Douglas Headline (manchette hat im Englischen auch die Bedeutung headline) schaut für ihn die neu ins Kino kommenden Filme. Er muss sie Szene für Szene nacherzählen, damit der Vater weiterhin Filmkritiken schreiben kann. Die Verfassung Manchettes verschlechtert sich, und nach und nach stellt er all seine Kolumnen ein. Position: Anschlag liegend (1981) ist sein letztes Buch für eine lange Zeit.
1984 wird Gerard Lebovici, ein bedeutender Situationist, ermordet. Für den ohnehin angeschlagenen Manchette setzt dieses Ereignis das Ende an eine Epoche des Aufruhrs. Der Polar erscheint ihm nicht mehr zeitgemäß. Hin und wieder erscheinen Rezensionen oder kleine Erzählungen. Und er übersetzt weiterhin regelmäßig aus dem Amerikanischen, unter anderen Donald Westlake und später Ross Thomas. Douglas Headline umschreibt diesen Abschnitt im Leben seines Vaters folgendermaßen: „Während des „Schweigens“, das es den Journalisten derart angetan hat, nimmt das Paradoxon geradezu absurde Züge an, und der Name Manchette wird gewissermaßen zum Zauberstab. Schreibt er etwa einen Artikel um auf den hochinteressanten Roman von James Ellroy Blood on the Moon aufmerksam zu machen, so wird das Buch zum Bestseller. Übersetzt er einen Comic, erhält er einen Grand Prix beim Festival in Angoulême. Gibt er einer Zeitung ein Interview, so löst das helle Entzückung aus. Seit er „schweigt“ , ist seine „Aura“ so strahlend wie nie zuvor.“ Den Amerikaner Ross Thomas trifft Manchette auf der Semana Negra 1987 in Gijón (ein internationales Treffen für Kriminalbuchautoren). Für Manchette ist diese Begegnung prägend. Der Spannungsroman, wie ihn Ross Thomas aufbaut und umsetzt, inspiriert ihn einen Buchzyklus zu verfassen, Les Gens du Mauvais Temps. Menschen in schweren Zeiten ist das Konzept historisch periodisch zu arbeiten, also den Plot unter die Begebenheiten eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses zu stellen, und im Verlauf mehrerer Bücher zur heutigen Zeit aufzuschließen. 1989 beginnt Manchette mit dem ersten Buch dazu, Die Blutprinzessin. Darin führt er anhand einiger politischer Umstände aus dem Jahr 1956 das Leben verschiedener Charaktere zusammen. Das Zusammentreffen eines Waffenhändlers, einer Kriegsberichterstatterin, eines alternden Geheimdienstlers und eines Söldners mit den Nachrichtendiensten aller beteiligten Länder ist gewaltig. Die Geschichte ist akribisch genau recherchiert, scharf konstruiert und in gewohnter Manier gut erzählt. Die Schauplätze sind Frankreich, Ungarn, Algerien und Cuba. In den folgenden Jahren bereist Manchette diese Länder für die Recherche zur Blutprinzessin.
1956 ist das Jahr der Initialisierung für die Situationistische Internationale. Seit dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei in Moskau sind die Verbrechen Stalins bekannt. Im Oktober 1956 erheben sich Arbeiter und Studenten in Ungarn und zwingen die sozialistische Regierung in die Knie. Die Sowjetunion interveniert, und eine russische Panzerdivision rollt an der Donau in Budapest ein. Der Aufstand wird niedergeschlagen. In Frankreich und vielen anderen Staaten lösen die Demonstrationen in Ungarn, und vor allem deren Niederschlagung politische Grundsatzdiskussionen aus, treten gesellschaftliche Konflikte los und erschaffen revolutionäre Gruppierungen wie die Situationisten. Auch der seit 1954 anhaltende Krieg zwischen Frankreich und Algerien dürfte dabei eine große Rolle gespielt haben. Kein Wunder also, dass Manchette dieses Jahr zum Ausgangspunkt seiner Serie bestimmt. Aber wieder greift eine Krankheit in das Leben des Autors ein. Ihm wird 1991 Krebs an der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert, dem er am 3. Juni 1995 erliegt. Die Blutprinzessin und somit der gesamte Zyklus bleiben leider unvollendet. Sein Sohn Douglas Headline, der später eine Buchreihe eines französischen Verlags leitet, veröffentlicht die „Prinzessin“ posthum, anhand der ersten Fassung und der Aufzeichnungen, die er finden kann.
Das Werk Manchettes sollte in jedem Bücherregal eines Krimiliebhabers einen festen Platz haben. Insbesondere die 2005 in Deutschland erschienenen Chroniques sind fundamental (Anmerkung: die Original-Chroniques sind umfangreicher). Es sind gesammelte Literaturkritiken Manchettes. Essays zum Roman Noir und dem Kriminalroman. Im Vorwort beschreibt der Autor an fünf Punkten, wie er seine Brötchen verdient (Cinques remarques pour mon gagner-pain), und führt aus, dass das Geschichtenerzählen und –lesen noch immer etwas wert ist, obwohl alles schon einmal erzählt wurde, und die Kunst längst tot ist.
Im Distel Literatur Verlag sind die Romane und „Chroniques“ von Jean-Patrick Manchette lieferbar.