Traditionsgemäß habe ich einen Teil zum großen Jahresrückblick im Culturmag beigetragen. Wie immer ist darin auch die CrimeMag Top Ten enthalten. Viel Spaß beim Lesen.
2018
Laut Henri Bergson ist Unordnung eine Ordnung, die wir nicht sehen können. Nach einem Jahresrückblick gefragt, ergeht es mir erst einmal genauso. Ein unendlicher Wust von kulturellen Erzeugnissen ist in den letzten zwölf Monaten auf den so bezeichneten Markt gelangt. Von all dem nehme ich lediglich ein My wahr, fühle mich aber doch von der Masse erschlagen. Und dann geht es schnell. Erinnerungen tauchen aus dem Gedächtnis auf, werden in einer Millisekunde neu geformt und ein klein wenig verändert wieder abgespeichert. Nichts, was ich erinnere, stimmt. Wenn ich an ein Buch oder einen Film ein zweites oder drittes Mal denke, verfälscht sich das Bild davon ein Stückchen mehr. Hirnforscher sprechen hier vom „Fischer aus Marseille Effekt“, dessen gefangener Fisch mit jeder Erzählung ein bisschen größer wird. In meinem Fall kommt mir zugute, dass ich enorm viel wieder vergesse, und somit funktioniert mein Jahresrückblick nach einem ganz simplen Prinzip. Was mir bei zweiter und dritter Überlegung noch positiv im Gedächtnis erscheint, hat gute Chancen, in den Text zu finden. Serien haben dabei einen leichten Weg, weil ihr Ausstrahlungsturnus und die ihnen immanente Redundanz den Marseiller Fischer in mir über Wochen bzw. Monate hinweg mit Zucker füttern. The Deuce Season 2 steht daher ganz oben auf meiner inneren Liste. Dass kein Verlag auf die heimliche Vorlage aufgesprungen ist und endlich mal eine gute Iceberg Slim Edition fabriziert, lässt allerdings Böses ahnen. Deutschen Serien wiederum fehlt leider immer noch der Respekt vor den Ansprüchen der Zuschauer. Sie vergurken in der Regel das Wichtigste, nämlich die Story. In 4 Blocks gab es ein paar gute Ansätze, aber auch hier schmiert irgendwann die Geschichte ins Belanglose ab. Aus der Filmbranche ging dieses Jahr nicht viel hervor, was mich zufrieden auf dem Sessel gehalten hätte. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri war gut, und mit Di Renjie zhi Sidatianwang kam der einzig ernst zu nehmende Kino-Detektiv unserer Zeit zurück. Die blühende und in weiten Teilen erfüllende Comic-Industrie hat auch 2018 große Freude bereitet. Exemplarisch für einige Neuheiten würde ich House of Whispers bei DC Vertigo empfehlen. Als dann im Herbst Millenium People von James Graham Ballard in den Handel kam, waren etliche zuvor beiseite gelegte Romane vergessen und wie selbstverständlich griff ich gleich im Anschluss zu Liebe&Napalm. Den vollen Kontakt im Umgang mit Sprache und Literatur führte uns zu meinem großen Vergnügen Jan Herman in The Z Collection vor. Da vom Umgang mit Sprache die Rede ist, sollte ich, nein, muss ich unseren heutigen Zeiten geschuldet an Victor Klemperers LTI – Notizbuch eines Philologen erinnern: „Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ In der Podcast Landschaft gab es ebenfalls eine hörenswerte sprachwissenschaftliche Sendung, in diesem Fall dreht sich das Gespräch im Forschergeist um Leichte Sprache (Daher mein Vorschlag: Ein CM Special in Leichter Sprache). Ähnlich fesselnd und zugleich nachdenklich stimmend zu hören, war Russland und Europa in der Reihe Fokus Europa. Nun, wir leben in seltsamen Zeiten. Die Gesellschaft scheint wohl geordnet mit Smart Houses, Low-Cost-Airlines und unfehlbar programmierten Computern. Mit ihnen kehren aber auch die Meister der Kultur zurück. Ein Mietersyndikat in einem erzkatholischen Wallfahrtsort, ein Konzeptkünstler mit Schlange in einer Kreuzberger Wohnung, ein Hörbuchautor auf einem Dach in Berlin-Mitte, ein anarchischer Bildhauer auf einem vergessenen Hügel in Niederbayern, eine katalanische Fotografin aus dem BMW Museum, ein Körperarbeiter im italienischen Urwald hoch über dem Ortasee, ein weißrussischer Exil-Musiker in Krasnoarmeyskaya, St. Petersburg …