O.Meißner


Anfang Juni 2018 erschien das Tabumag im geschätzten CM, darin gab es einen Beitrag von mir. Im Folgenden kann man nun auch hier den leicht geänderten Text nachlesen…

DeepWater

Weltmeister

In einem Land, in dem es als Partygag eine Lampe aus Knochen mit einem Schirm aus menschlicher Haut gegeben hat, wo Ärzte an lebenden Menschen gewissenlose und rassistische „Experimentalmedizin“ betrieben haben, die Vergasung von Millionen im Buche steht, mit Leichenbergen, die mit Baggern in Massengräbern geschaufelt werden mussten; einem Land, in dem der Tod ein Meister ist, in einem solchen Land über Tabus zu sprechen und zu schreiben, ist eine schwer zu bewältigende Aufgabe. Meyers Grosses Taschenlexikon schreibt: „Die Funktion von Tabus ist es, das soziale Handeln den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend zu regulieren. Tabus beziehen sich daher immer auf zentrale Werte einer Gesellschaft und werden mit der Zeit zu Selbstverständlichkeiten.“ Zentrale Werte einer Gesellschaft sind allerdings recht flüchtig im Wesen und schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr. Genauso Tabus. Für Deutschland galt einst beispielsweise Wiederbewaffnung als Tabu, was recht schnell flöten ging, von politischer Neutralität ganz zu schweigen. Und wo steht das Land und seine Gesellschaft heute? Es gab und gibt immer wieder viele gute Ideen für einen humanen und sozialen Umgang miteinander, aber natürlich gibt es genauso viele Brüche unserer Übereinkünfte. Das könnte man als Freiheit verstehen. Freiheit in dem Sinne, frei zu sein, die Regeln selbst zu bestimmen. Mehr oder weniger, weil Freiheit natürlich eher stufenweise zu erlangen ist, und nicht ganz oder gar nicht. Sie ist nicht käuflich und leider selten von langem Bestand. Sie ist eine Herausforderung, der wir uns täglich auf ein Neues stellen müssen und stärker in die gesellschaftliche Aufmerksamkeit gehoben werden sollte.

„Die Funktion von Tabus ist es, das soziale Handeln den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend zu regulieren“, heißt es. Das Wort „sozial“ in Meyers Definition soll wohl die Intention beschreiben, sich bei unserem Tun auf Gründe zu berufen, die Mitmenschen fair und mit Respekt zu behandeln. Das heißt, erst die Konsequenzen abwägen und dann handeln. Schließlich müssen wir uns irgendwann immer die abschätzbaren Folgen unseres Treibens zuschreiben lassen. Aus dieser Verantwortung kann man sich schwer herausschwindeln. Das hat bisher nicht funktioniert und wird es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht. Gut, vielleicht ist das zu viel verlangt, aber zumindest sollte ein Grundverständnis von Kooperation vorhanden sein. Also, wo stehen wir heute? Worüber wird ernsthaft gesprochen, und vor allem, worüber wird geschrieben? Über die Gewalt, die täglich gegenüber der Natur angewandt wird? Über kulturelle Unterdrückung? Über Armut? Über Flucht? 60 Millionen Menschen befinden sich nach Schätzungen des UNHCRs derzeit auf der Flucht, aber etwa eine Milliarde Menschen sind zu arm, um Flucht überhaupt in Betracht ziehen zu können. Fallen diese Menschen unter die Definition der Funktion von Tabus? Ein anderes Thema wäre der Tod. Untersuchungen zum Sterben in Deutschland sprechen vom „wilden Tod“, was bedeuten soll, dass wir uns das Sterben und den Tod mit professioneller Perfektion vom Leibe halten. Der Tod ist so gut wie nicht sichtbar. Es hat sich eine Industrie um ihn herum entwickelt, die uns von unseren Toten klinisch fern hält. Er gehört paradoxerweise nicht in unsere Gesellschaft. Selbst in den gängigen Kulturangeboten Literatur, Film, Theater usw. wird der Tod klinisch kalt und fern der Gesellschaft behandelt, als sei er ein abstrakter Teil unseres Lebens und nicht ganz real und ein ständiger Begleiter. Aber zum Glück gibt es Tobias O.Meißner und seinen Romanzyklus „Hiobs Spiel“. Darin wird ganz handfest gevögelt, gelogen, gequält, gedemütigt, gestorben, gemordet und was eben noch zum Leben gehört, aber vor allem hört O.Meißner nicht dort auf zu schreiben, wo viele andere Autoren das Handtuch schmeißen. Wenn es hässlich wird, erzählt er weiter, bis hin zum würdelosen Ende, und teilweise darüber hinaus. „Hiobs Spiel“ ist auf 50 Jahre angelegt. Bisher sind vier Teile erschienen, der erste Teil erschien 2002 bei Eichborn Berlin und in diesem Frühjahr im Golkonda-Verlag Teil Vier unter dem Titel „Weltmeister“. Die Geschichte ist schnell zusammengefasst. Die Hauptfigur Hiob Montag ist der Spieler. Er ist ein Mensch mit magischen Fähigkeiten, lebt in Berlin und hat einen ganz wunderbaren Succubus an seiner Seite mit Namen Widder. Hiobs Gegenspieler ist NuNdUuN. Der Fürst der Phantome, Herrscher über das Wiedenfließ. NuNdUuN ist Gott und Teufel zugleich, das Wiedenfließ eine Art Hölle, ein Ort, in dem das Abnormale beheimatet und auf eine eigene Art göttlich und komödiantisch ist. Wenn man im Bild bleiben möchte, dann wäre unsere Welt das Diesseits und irgendwo kommt dann noch der Himmel. Natürlich hängt alles zusammen, und jedem Ministrant ist klar, dass es sich bei den Begriffen Himmel, Hölle, NuNdUuN und Wiedenfließ bloß um Glaubenszustände handelt. Das Spiel ist simpel. NuNdUuN stellt Hiob Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Sie sind graduell abgestimmt und werden mit Punkten bewertet. Wenn er 78 Punkte schafft, ist er der Chef und die Welt wird gerettet. Hiob schlägt sich gut. Aktuell ist er Weltmeister. Zuletzt hat er unter anderem versucht einen Haufen Krebsgeschwüre zu essen, unten in der Siechabteilung des Virchow-Krankenhauses, was ihm nicht gelang. Wäre auch zu einfach gewesen, nachdem er im ersten Teil schon das Blut einer HIV-Positiven jungen Frau getrunken hat. Sie hatte sich auf einer Party bei einem Kolumbianer angesteckt und daraufhin den Plan entwickelt, und auch in Tat umgesetzt, nach Kolumbien zu reisen, um dort mit möglichst vielen Männern ungeschützten Sex zu praktizieren. Diese Geschichte beruht im Übrigen auf wahren Ereignissen. Eine Floskel, die wir ja immer öfter zu lesen kriegen. Nun gut, Hiob kriegt die singenden Krebsgeschwüre nicht runter, aber schafft es, sie zu erwürgen. Dann kursiert ein Buch oder eher eine Graphic Novel in Berlin. Jeder, der sie liest, verendet auf elendige Weise. Wie in der Graphic Novel beschrieben, kehrt sich das Innere des Lesers nach Außen. Übrig bleiben die Leichen von jungen Männern und Frauen, die in ihren eigenen Eingeweiden, ihrem Blut und Exkrementen zuhause aufgefunden werden. Das Buch wechselt mit der Nachlassauflösung den Besitzer. To be continued …

In den letzten 25 Jahren sind etwa genauso viele Prüfungen für Hiob gebastelt worden wie Jahre verstrichen, denn vor dem Ersterscheinen 2002 musste das Spiel zunächst entwickelt und Band Eins geschrieben werden. Tobias O.Meißner sagt, dass die Arbeit an „Hiobs Spiel“ sehr nervenaufreibend sei, sowie arbeits- und rechercheintensiv. Der Zyklus ist nicht einfach Horrorliteratur mit groteskem Gemetzel und wenig Platz für den Raum zwischen den Zeilen. O.Meißners Arbeit ist engagiert, nicht nur inhaltlich, auch stilistisch, mit naturalistisch modernen Elementen und Anklagen, ein wenig in der Tradition der Brüder Goncourt oder Zolas, natürlich etwas düsterer, russischer vielleicht, schließlich lebt O.Meißner in Berlin. Wer die vier Bände liest, immer im Hinterkopf die Zeit behaltend, in der sie entstanden sind, der wird die Verschiebung, mitunter Umkehrung von Tabus in unserer Gesellschaft vor Augen geführt bekommen. Dass das nicht schön ist und zu Zweifeln inspiriert, dürfte auf der Hand liegen. Daher empfehle ich jedem, der mal über den Tellerrand hinweg denken und lesen möchte, sich „Hiobs Spiel“ zu Gemüte zu führen. Dazu muss man selbstverständlich nicht mit dem ersten Band anfangen, es handelt sich schließlich um einen Zyklus von 50 Jahren. Für die kommenden 25 Jahre sind drei weitere Bände geplant. Also alle acht Jahre ein neues Spiel.

Tobias O.Meißner, Golkonda Verlag, 392 Seiten, 24,90 €

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The Parasitic Ward
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